Geschichte mit Flamenco-Musik
Poetische Zeugnisse sind aus allen Konzentrationslagern bekannt. Mit ihnen wurde es den Häftlingen möglich, sich für Momente zu spüren. Der Geist wurde beschäftigt, die richtigen Worte zu finden für den inneren Zustand, aber auch für das, was um sie herum geschah. Es galt, die Beschreibung in die Form eines Gedichts zu bringen – eine überschaubare Form, die anders als die Realität, eine klare Ordnung hat. Diese positive, weil ablenkende Beschäftigung erforderte immer auch einen ungeheuren Mut – nämlich zu benennen, was ist. Das Überleben hing nicht zuletzt davon ab, eine Balance zwischen einer existentiell notwendigen Abwehr des Grauens und der Überwindung eines Zustandes einsamer Apathie zu finden.
Die Funktion des Dichtens im KZ
Das Finden von Worten wie auch das Hören der eigenen Stimme verlieh den Gefangenen Lebendigkeit. Darüber hinaus konnte das Sprechen der Muttersprache Trost und Kontakt vermitteln. Man fand buchstäblich zu denjenigen, die dieselbe Sprache sprechen. Die Reime erleichterten die Anstrengung, einen Selbstausdruck zu finden, ebenso wie sie anderen dabei halfen, sich die Inhalte besser einprägen zu können.
Bei den Texten, die gesungen wurden, tritt besonders deutlich ein weiterer Aspekt hervor: Durch die dort beschriebene Erfahrung, vor allem aber durch die Musik als verbindendes Element wurden sie grenzüberschreitend und ermöglichten eine Verständigung zwischen den Nationen, Kulturen, Religionen.
Eine Vorstellung über das Geschehene entwickelt sich erst über das Hören der poetischen Texte, ein Hören, das sich maßgeblich über Stimme und über (Wort-)Klänge ereignet.
Die Sprache des Flamenco
Es fiel uns auf, dass der internationale Charakter des Flamenco und seine Entstehung unter den Bedingungen von Vertreibung als Selbstbehauptung korrespondiert mit der KZ-Lyrik. Im Konzentrationslager trafen Menschen aufeinander, die die Nationalsozialisten aus allen Ländern Europas verschleppt hatten. Auch das sich Erheben über den ausgeübten Druck, das Hörbar machen wollen von Schmerz und erduldeter Pein und das (Mit-)Teilen dieser Erfahrungen im Vortrag in der Gemeinschaft legten nahe, den Flamenco als Ausdrucksform zu verwenden, um die Gedichte zu unterstützen und dem Zuhörer Zeit zu geben die Worte auf sich wirken zu lassen.
Die Gitarrenklänge versuchen, den „cante jondo“ nachzuempfinden. Der „cante jondo“ wird allgemein als ein tiefinnerer, großer Gesang überliefert. Dieser Gesang kann auch in den Gedichten vernommen werden. Er vermittelt eine tiefe Verzweiflung, Einsamkeit aber auch Sehnsucht, ja sogar Freude. Im Flamenco gibt es dafür spezielle Bezeichnungen. Die „Solea“ behandelt in ihrem Gesang zum Beispiel die Einsamkeit als Grundthema. Auch die „Siguiriya“ hat einen sehr schwermütigen Charakter, in ihr werden bei der Gitarrenbegleitung die tiefen Basssaiten angespielt, um so die düstere Stimmung zu erzeugen, die ihr zu Grunde liegt. Eine „Alegria“ ist eher ein freudvoller Tanz, der dem „cante chico“ (ein eher leichter, fröhlicher Gesang) zuzuordnen ist. Die Improvisationen bewegen sich analog zu den verschiedenen Formen des Flamencos, der an sich eher rhythmisch strengen Gesetzen unterliegt.
Gedichte zu Gehör bringen
Die in den Konzentrationslagern entstandenen Gedichte sind als Anklage, Aufschrei, als Ausdruck von Sehnsucht und Trauer oder als Trost für sich selbst oder für eine andere Person zu verstehen. Das brutale, unmittelbar erlebte Leid wirkt wie der tiefinnere Gesang, der herausgelassen werden muss, in der Art, sich nicht nur über das empfundene Leid selbst mitzuteilen, sondern auch den anderen teilhaben zu lassen. Dass in den Baracken heimlich Gedichtabende, Liederabende und sogar Theaterstücke aufgeführt wurden, hatte durchaus eine ähnliche Funktion wie die Zusammenkünfte bei den unterdrückten „Gitanos“ in Spanien. Man trifft sich im familiären Kreis und weiß, worum es geht, man hat die gleichen Erfahrungen, man teilt sich mit und gibt sich darüber gegenseitig etwas, um so das Leben in der Unterdrückung etwas erträglicher zu machen.
Vor einer Gruppe von Zuhörern entwickelt sich im besten Fall ein gemeinsames Erleben und Erfahren, man wird unmittelbar berührt. Das Hören der Gedichte heute ist wie eine Beteiligung der „Aficionados“ (im Flamenco „Teilhaber“, „Wissender“) zu werten, wir sind nicht Teil des vergangenen Geschehens, sondern nur laienhafte „Mitstreiter“, die durch ihr Wissen um die Umstände im Konzentrationslager teilhaben können an dem erlebten Leid der inhaftierten, misshandelten und getöteten Insassen.
Die Improvisationen arbeiten mit diesen Elementen aus dem Flamenco, sie orientieren sich an den Botschaften der Worte, mit denen die Gitarre in einen Dialog tritt und sie münden je nach Aufführungssituation, da sie die jeweilige Gruppe der Hörenden mit hineinholen wollen, in ein gemeinsames Erleben.
Musikalische Lesungen für und mit Jugendlichen
Diese Überlegungen gestalten unsere musikalischen Lesungen zu verschiedenen Themen (vgl. zu unserem Programm www.tonworte.de). Die Möglichkeiten der inhaltlichen Auseinandersetzung, die die poetische Kurzform und die Musik für die Arbeit mit Jugendlichen bietet, sind vielfältig. Die Inszenierung einer Lesung lässt sich, wie wir feststellten, überraschend gut kombinieren mit interaktiven Methoden, die die Jungen und Mädchen in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte begleitet.
Positive Rückmeldungen von jugendlichem Publikum unterstützten die Entwicklung solcher Programme, die mehr politische Bildungsarbeit als Konzert sein wollen.
Auszug aus unserem gleichnamigen Beitrag in: „Schwierige Jugendliche gibt es nicht ...! Historisch-politische Bildung für ALLE“. Projekt zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für besondere Zielgruppen, hrsg. von Andreas Mischok, Braunschweig 2010, S. 125-136.