Unter dem Stacheldraht saß ein Vogel
"Unter dem Stacheldraht saß ein Vogel"
Vom Dichten im KZ
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stehen die Gedichte, die Frauen und Mädchen verschiedener nationaler Herkunft in Ravensbrück gereimt haben. Die Musik will sich in ihren Dienst stellen.
Weit hergeholt ist diese Idee nicht, denn zahlreiche Gedichte, die in KZ entstanden, wurden vertont bzw. es wurde zu bekannten Melodien gereimt.
Wir lassen die Worte in einen Dialog treten mit Musik, weil wir hoffen, dadurch sowohl das Aufnehmen ihrer Botschaften als auch die in den Reim gebannten Inhalte selbst unterstützen zu können.
Musik in der Tradition des Flamenco
Das Besondere dieser szenischen Lesung ist die von uns geschaffene Verbindung mit musikalischen Improvisationen, die in der Tradition des Flamenco stehen. Trotz des nicht vergleichbaren Entstehungskontextes können für beide künstlerische Ausdrucks-formen Parallelen geltend gemacht werden:
Dem Flamenco geht es, ähnlich wie der KZ-Lyrik, um die Selbstbehauptung angesichts der Erfahrung von Leid und Erniedrigung. Formen wie die Sigueriya, die von Tod und elenden Schmerzen der Trauer erzählt, oder die Solea, die von menschlicher Einsamkeit handelt, eignen sich als musikalisches Pendant zu den Gedichten.
Im Flamenco stecken vielerlei internationale kulturelle Einflüsse, ebenfalls ein Berührungspunkt zur KZ-Lyrik, die in ihrem internationalen Vorkommen und Kontext zu betrachten ist. Sowohl Flamenco als auch die meisten Gedichte verdanken ihre Lebendigkeit dem unmittelbaren Moment, der in eine künstlerische Form gebracht wird. Beiden gemeinsam ist, dass während des Schöpfungsprozesses, aus dem Hinabsteigen in die Tiefen von Leid und Traurigkeit, immer wieder Momente von Hoffnung, Lebensmut oder sogar Lebensfreude errungen werden.
Dichten als Selbstbehauptung
Wir möchten Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, worüber die Frauen dichteten. Die Gedichte sind an sich als Selbstgespräche oder als mündliche Rufe zu verstehen, weswegen es wichtiger ist, sie zu Gehör zu bringen als zu lesen. Und wichtiger, sich von ihnen – über das gesprochene Wort – ansprechen zu lassen.
Von Bedeutung dabei ist ihr Rhythmus, der dem Atem oder dem Herzschlag nachgebildet ist. Über ihre mündliche, rhythmische Sprache vertreten die Gedichte gewissermaßen die Individuen, die ihre Zerstörung aber auch ihre Sehnsucht nach Zukunft bezeugen.
Die ausgewählten Gedichte thematisieren den Schock der Ankunft im KZ und die Lagerbedingungen, aber auch die Natur als personifiziertes Gegenüber. Das Spektrum reicht von der Dokumentation der Verbrechen und des Leid bis zur sehnsüchtigen Beschwörung einer besseren Zukunft, selbst wenn diese nicht mehr selbst erlebt werden kann, von der bitteren Klage bis zum sarkastischen Humor, Formen, bei denen das Ich einen Weg sucht, die erlittene Katastrophe zu benennen und gleichsam ins Wort zu bannen.
Gedicht "The Sky of Ravensbrück" anhören (mp3)
von einer englischen Fallschirmspringerin verfasst im KZ Ravensbrück