Aus dem KZ Ravensbrück geschmuggelter Brief
Brief IX, vom 9. Oktober 1943
geschrieben von Zofia Pociłowska
„Wundert Euch nicht, dass wir unsere Korrespondenz auf diese besondere Weise einteilen. Als wir das letzte Mal da waren, haben wir einem von Euch den Grund dafür gesagt, und jetzt wollen wir die Lage schildern und sie genau beleuchten. Ihr wisst sicherlich selbst, dass wir keine völlig einheitliche Gruppe sind. Unter uns befinden sich Kameradinnen aus verschiedenen Milieus, mit einem differenzierten intellektuellen Niveau und sogar mit verschiedener Einstellung und verschiedenem Einschlag. Diese Unterschiede sind selbstverständlich nicht nicht so sehr bedeutend im Hinblick auf unsere Ausstrahlung nach außen, unsere Solidarität usw. – es liegt aber auf der Hand, dass sich manche Sachen nur innerhalb einer in höchstem Maße einheitlichen und eingespielten Gruppe realisieren lassen. Und in diesem Fall, ich meine hier die Kolonne, ist es eher eine zufällige Zusammensetzung, und obwohl wir uns bei der Arbeit im Alltag eingespielt haben und uns verstehen, ist es nicht möglich, ernsthaftere Dinge zusammen in Angriff zu nehmen. Durch Zufall gehören zu dieser Kolonne einige von unserer ideologisch geschlossenen Gruppe, und es liegt an uns, mit Euch Verbindung aufzunehmen und ihr diese oder jene Form zu geben.
Nach einer Prüfung aller Umstände haben wir uns entschlossen, unsere Angelegenheit folgendermaßen zu lösen: Wir werden einen allgemeinen Brief schreiben, der von der ganzen Kolonne und von einem breiteren Kreis gelesen werden kann, und einen Extrazettel nur von uns. Wir bitten Euch sehr, genauso zu verfahren. Und jetzt zur Sache. Wie Euch bekannt, sitzen wir alle (d. h. diejenigen, die Euch schreiben) für eine Organisation, und obgleich die einen mehr, die anderen weniger engagiert sind, so wird jede in die Arbeit einbezogen, und wenn jetzt irgendeine von uns in die Freiheit käme, würde sie bestimmt weiterhin am Leben des Volkes aktiv mitwirken müssen. Hier sind wir zwar eingesperrt, der Freiheit und Ungebundenheit beraubt, aber abgesehen davon haben wir unsere Arbeit und unser Ziel.
Unabhängig davon, ob wir zurückkehren werden oder auch nicht, muss die Geschichte der Polinnen aus Ravensbrück und die Geschichte des Lagers überhaupt – die wahre und unverfälschte Geschichte – möglichst genau und umfassend das Tageslicht erblicken. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Feinde, mit Mangel an Beweisen rechnend, irgendwann versuchen werden, vor der Welt ihre Verbrechen zu verbergen oder zu verschleiern. Wir sind uns dessen bewusst, dass wenn wir nicht von hier fortkommen, werden es solche sein, die das Lager vielleicht in einem anderen Licht darstellen werden, und zwar ganz einfach deshalb, weil ihnen vielleicht viele Fakten verborgen bleiben, oder sie zeigen an diesen kein Interesse. Diesen Standpunkt vertreten wir schon seit Langem, und seit Langem versuchen wir, auf allen möglichen Wegen unser Ziel zu erreichen, und obwohl wir es bislang zu einem gewissem Teil geschafft haben, so ist das noch nicht alles, weil die Aufgabe sehr schwer ist. Erst jetzt sind die Umstände so günstig, dass wir mit Eurer Hilfe all unsere Pläne realisieren können.
Wir hoffen, Ihr werdet uns das nicht abschlagen. Denkt nicht, Ihr habt es mit unerfahrenen und leichtfertigen Mädchen zu tun, die Sachen dieser Art nicht gewachsen sind (so schilderte uns, glaube ich, unsere Gruppenführerin, aber achtet bitte nicht darauf, sie ist uns gegenüber sehr gut, solide, aber wir sind mit ihr nicht sehr eng verbunden, sie kennt sich in unseren Angelegenheiten nicht aus und hat damit nichts zu tun). Was uns betrifft, sind in unserer Mitte auch ältere, sehr erfahrene und besonnene Frauen, ansonsten haben wir selbst schon so viel erlebt, dass wir das Recht haben, unsere Arbeit mit voller Verantwortung zu übernehmen. Übrigens, obwohl wir in der Tat vom feindlichen Element umgeben und allen möglichen Überraschungen und Schikanen, wie Revisionen usw. ausgesetzt sind, kennen wir uns schon so gut in der Lage aus, dass wir bei Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen immer verstehen, dem Unglück vorzubeugen oder ihm zu entrinnen, wobei im Augenblick der Gefahr alle wichtigsten Papiere sofort vernichtet werden. Und die wichtigste, unsere und Eure Pflicht ist nach unserer Auffassung, ungeachtet der großen Gefahr, die Sache zu Ende zu führen.
Und jetzt wollen wir Euch unsere Vorstellung von Eurer Hilfe schildern. Vor allem hätten wir gern gewusst, wie Eure Möglichkeiten sind, d. h. ob Ihr irgendwie organisiert seid und Verbindungen unterhaltet oder nicht. Falls das bisher nicht der Fall ist und Ihr keine diesbezüglichen Möglichkeiten habt, bestünde Eure Hilfe lediglich in Aufbewahrung in unveränderter Form (d. h. im Original) und Hinausbringen dieser Sachen unbedingt in die Freiheit. Solltet Ihr aber organisiert sein, hätten wir gern gewusst, über welche Möglichkeiten Ihr verfügt und in welcher Richtung sich diese erstrecken, ob Ihr einen ständigen Kontakt mit irgendeiner Organisation habt oder ob es sich um zufällige, gelegentlich, vielmehr private Kontakte handelt. Und schließlich, vielleicht habt Ihr irgendwelche Möglichkeiten und könnt sie jetzt in Zusammenarbeit mit uns nutzen, wir wären in der Lage, Euch einige Punkte in Bezug auf Kontakte zu geben, die Ihr eventuell nutzen könntet!
Auf jeden Fall sind wir, unabhängig von allem, entschlossen, nicht passiv auf ein unbekanntes Ende zu warten, wir glauben, dass auch Ihr, liebe Jungs, mit unserer Position einverstanden sein werdet, und sofern es Euch möglich wird, werdet Ihr uns helfen und aufrichtig Eure Möglichkeiten schildern. Unser Material ist sehr umfangreich, und wir möchten es Euch im Ganzen zukommen lassen (selbstverständlich können wir das nicht auf einmal tun); wir warten auch auf Eure Antwort. Wir möchten auch wissen, ob Eure Briefe an uns immer von ein und denselben Personen geschrieben sind (nicht immer bekommen wir Antworten auf unsere Fragen). Wir regeln es so, dass sich immer dieselben mit dem Briefwechsel beschäftigen. Wir möchten Euch sehr bitten, vorsichtshalber die Ladung für uns nicht eher vorzubereiten, bevor Ihr geprüft habt, ob eine von uns oder jemand anders dazu befugt ist. Wenn wir kommen, muss jemand von Euch unbedingt versuchen, vorbeizukommen oder sich in unserer Nähe sehen zu lassen. Wenn Ihr dann die Losung ‚seid bereit‘ hört – alles in Ordnung, anderenfalls bitte nichts hinterlassen! Das wäre vorläufig alles, wir warten ungeduldig auf Eure Antwort.“