Zur Geschichte
Der Schmuggelfund aus dem KZ Ravensbrück
Am 24. Mai 1975 um 10 Uhr begann eine Einsatzgruppe der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Neubrandenburg, im Wald zu graben. Dr. Henryk Grabowski, ein polnischer Arzt und ehemaliger Häftling des Kriegsgefangenenlagers IIA, hatte die Stasi auf die Stelle hingewiesen. Mitten im Wald, einen Meter von einem Grenzmarkierungsstein
entfernt, einen Kilometer östlich des Standortes des Nachrichtenregiments Fünfeichen der Nationalen Volksarmee der DDR, in der Nähe der Bahnstrecke Burg Stargard – Neubrandenburg, wurde ein über dreißig Jahre alter Dokumentenbehälter freigelegt.
Sein Inhalt wurde von der DDR-Regierung an das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei übergeben, die ihn an das Staatliche Museum in Oświęcim/ Auschwitz weitergab. Krystyna Oleksy, ehemalige Leiterin der pädagogischen Abteilung, erinnert sich daran, dass sie und ihre Kollegin, Irena Polska, im Jahr 1989 den Bitten der
polnischen Überlebenden nachgaben und, trotz damaliger Papierknappheit, eine Publikation ermöglichten. Sie trägt den Titel: „Damit die Welt es erfährt …“. Illegale Dokumente aus dem KZ Ravensbrück („Aby świat się dowiedział …“: Nielegalne dokumenty z obozu Ravensbrück).
Der Fund
In dem Glasbehälter befanden sich in gutem Zustand:
1. 36 Blätter verschiedener Größe mit Briefen und Gedichten,
2. eine Zeichnung,
3. eine Miniaturschnitzerei, die einen Adler darstellt und zwei Inschriften trägt: „Noch ist Polen nicht verloren“ und „Freiheit und Sieg 1943“.
Die insgesamt 14 Briefe stammen aus der Zeit von Frühjahr bis Herbst 1943. Verfasst wurden sie von polnischen Mädchen und Frauen, die in dem größten Frauenlager auf damaligem Reichsgebiet inhaftiert waren, im Konzentrationslager Ravensbrück.
Außerdem fanden sich in dem Glasbehälter 37 Gedichte von drei polnischen Autorinnen, die zwei Generationen von Inhaftierten vertreten:
a) Zofia Górska, verhaftet mit 18 Jahren und deportiert 1942 aus Radom, hinterließ 17 Gedichte,
b) Grażyna Chrostowska, deportiert 1941 mit 19 Jahren aus Lublin, hinterließ 15 Gedichte,
c) von Halina Golczowa, deportiert 1942 mit etwa 40 Jahren, stammen 5 Gedichte.
Des Weiteren enthält der Schmuggelfund Erschießungslisten:
Zwischen November 1941 und September 1943 erschoss die SS meist noch junge Polinnen in Ravensbrück, darunter auch Grażyna Chrostowska. In den vergrabenen Listen werden 145 Namen genannt, in einem Brief verweist die Schreiberin auf insgesamt 184 Erschossene. Mutmaßlich wurden weitere Listen geschmuggelt, die sich nicht im Glasbehälter befanden.
Schließlich enthält der Fund eine tabellarische Auflistung der an 74 Polinnen vorgenommenen medizinischen Experimente aus der Zeit zwischen Juli 1942 und August 1943. Es handelte sich bei diesen in der Liste dokumentierten Misshandlungen um Sulfonamidexperimente, Knochen-, Muskel und Nerventransplantations- und Regenerationsversuche, die an den Beinen der Frauen vorgenommen worden waren.
Mit den Sulfonamidexperimenten sollte die Behandlung von Frontverletzungen (Gasbrand) erprobt werden. Die während der deutschen Besetzung Polens verhafteten Widerstandskämpferinnen wurden ohne ihr Wissen und Einverständnis und ohne ausreichende Wundversorgung „operiert“. Die Jüngste war 16 Jahre, die Älteste 48 Jahre alt. Der Baustein 8 zum Nürnberger Ärzteprozess befasst sich ausführlich mit diesen Verbrechen, den verantwortlichen SS-Ärzten und den Opfern, von denen vier als Zeuginnen der Anklage vor Gericht aussagten.
Die Geschichte des Fundes
Die illegalen Dokumente, die Briefe wie auch die Gedichte haben einen einzigartigen historischen Wert. Die inhaftierten Frauen und Mädchen wollten die NS-Verbrechen aufzeichnen und der Außenwelt zukommen lassen. Sie hofften, auf diese Weise dafür zu sorgen, dass die Verbrechen geahndet und die Erinnerungen an die Ermordeten erhalten werden.
Ihre Korrespondenzpartner waren polnische Kriegsgefangene, die in einem Kriegsgefangenenlager (Stalag IIA) bei Neubrandenburg inhaftiert waren. Hinweise in den Briefen, zum Beispiel die Bestellungen verschiedener Materialien wie polnische Bücher, Schreibpapier und sogar Medikamente und Gegenstände für religiöse Kulthandlungen, die die Männer offenbar beschaffen konnten, deuten auf eine größere Bewegungsfreiheit
der Männer hin.
Wie fand der Schmuggel statt?
Die Veröffentlichung des Museums Auschwitz aus dem Jahr 1989 dokumentiert neben dem Schmuggelfund Erinnerungen und Briefe der beteiligten Akteure. Auf diese Weise erfahren wir, wie der Austausch von Dokumenten und Waren vonstatten ging, wer die Männer waren und wie es zum Vergraben des Glasbehälters gekommen ist: Den Briefen zufolge trafen die Beteiligten anlässlich von Arbeitseinsätzen außerhalb des Hauptlagers zusammen, und zwar in Neustrelitz.
Der Kontakt wurde von der sogenannten Pferdekolonne angebahnt – zehn Frauen, die in Fürstenberg im Pferdestall für SS-Pferde zuständig waren und Heu in Neustrelitz holten
(in der Zeit von Dezember 1942 bis Februar 1943). Später wurde die Verbindung zu den dortigen Kriegsgefangenen von den Ladekommandos weiterentwickelt, die immer montags in den Lagerhallen in Neustrelitz Ware für die SS holen mussten.
Auch mit französischen Kriegsgefangenen des Stalag IIA, die in Fürstenberg im Kommando A85 arbeiteten, unterhielten die Frauen des Ladekommandos Kontakt. Fast alle Frauen und Mädchen aus den beiden Ladekommandos waren im August und September 1941 mit Transporten aus Warschau und Lublin nach Ravensbrück gekommen.
Die Männer, von denen ebenfalls Briefe und Erinnerungen in die polnische Publikation aufgenommen wurden, gehörten zu einer Widerstandsgruppe, die vorwiegend aus jungen polnischen Ärzten bestand. Sie wurden von den Deutschen während des Krieges gefangen genommen und mussten sich im Kriegsgefangenenlazarett um die Verwundeten und Kranken kümmern.
Eine der Briefschreiberinnen, Zofia Pociłowska, berichtet 1975, dass der Austausch von Waren bzw. Schriftstücken über zwei Toilettenhäuschen stattfand, die sich offenbar auf dem Gelände der SS-Warenlager in Neustrelitz befanden.
„Damit die Welt es erfährt“
Die im Glasbehälter befindlichen Dokumente sind lediglich der letzte Teil einer größeren Sammlung. Offenbar gelang es den kriegsgefangenen Männern, andere Informationen weiterzuleiten.
Bekannt ist, dass um das Jahr 1943 tatsächlich eine Sendung im britischen Rundfunksender BBC erschien, in der über die medizinischen Experimente in Ravensbrück berichtet wurde. Der an der Widerstandsgruppe beteiligte Arzt Dr. Henryk Grabowski berichtet, dass nicht nur die Welt von diesen Experimenten erfuhr (und nichts unternahm), sondern auch die SS dadurch alarmiert wurde. Ihre im Kriegsgefangenenlager plötzlich vermehrt durchgeführten Razzien waren Anlass für die Männer, die noch im Lazarett versteckten Dokumente der KZ-Häftlinge zu vergraben.
Bereits solche Dokumente im Lager zu erstellen, war lebensgefährlich und erforderte ein höchstes Maß an Organisation und Geheimhaltung. Die Gefangenen setzten alles daran, Informationen nach Polen, zur polnischen Exilregierung bzw. zum englischen Rundfunksender BBC nach London zu übermitteln.
Manchmal schmuggelten sich „Versuchskaninchen“ unter die Häftlinge des Ladekommandos, eine höchst gefährliche Aktion, die viel Mut erforderte. Sie durften auf keinen Fall das Lager verlassen, doch wollten sie den Kriegsgefangenen, wenigstens
von Weitem, unbedingt ihre operierten Beine zeigen.
Einmal gelang es Häftlingen, einen Fotoapparat zu organisieren, um heimlich hinter einer Baracke im Lager Aufnahmen von einigen Frauen zu machen, deren Beine durch die medizinischen Experimente verstümmelt worden waren. Darunter war Maria Kuśmierczuk, die hinter einer Baracke ihr verstümmeltes Bein zeigt; sie überlebte und trat später als Zeugin der Anklage im Nürnberger Ärzteprozess auf. Der Film, der das Verbrechen der Zwangsoperationen dokumentieren sollte, wurde von der französischen Gefangenen Germaine Tillion versteckt und nach der Befreiung des Lagers mitgenommen.